Schutzkonzept für die intensive Begleitung neurodivergenter Kinder und Jugendlicher
1. Grundhaltung – Schutz bedeutet Beziehung, Sicherheit und Individualität
Wir vertreten ein erweitertes Verständnis von Kinderschutz: Nicht nur körperliche Unversehrtheit, sondern auch emotionale, soziale und psychische Sicherheit sind zentrale Schutzgüter. Gerade bei Kindern und Jugendlichen im autistischen Spektrum wird Schutz oft mit Kontrolle verwechselt – dabei entstehen Gefährdungen nicht durch „abweichendes Verhalten“, sondern durch das Umfeld, das keine andere Reaktion zulässt.
Leitsätze unseres Schutzverständnisses:
- Verhalten ist Kommunikation – nicht Störung
- Überforderung ist Gewalt – auch strukturell
- Beziehung ist Schutz – nicht Beobachtung
- Digitalität ist Verbindung – nicht Distanz
2. Spezifik des Risikoprofils: Autistische Kinder und Jugendliche im Hilfesystem
Viele autistische Kinder erleben strukturelle Risiken, die im klassischen Kinderschutz nicht ausreichend abgebildet werden:
- chronische Reizüberflutung (z. B. Schule, Wohngruppen)
- fehlende Passung in Systemen (z. B. Werkstätten, Schulpflicht)
- Pathologisierung von Selbstschutzstrategien (z. B. Rückzug, Essverweigerung)
- wiederholte Bindungsabbrüche durch Systemwechsel
- Eskalation durch Überforderung, nicht durch „Verhaltensauffälligkeit“
Unsere Verantwortung: Ein Schutzkonzept muss diese realen Belastungen als Gefährdungsfaktoren ernst nehmen und alternative Formen von Begleitung und Dokumentation ermöglichen.
3. Gefährdungseinschätzung – individuell & neurodiversitätssensibel
Klassische Gefährdungseinschätzungen greifen oft zu kurz – sie interpretieren Verhalten aus einer normativen Perspektive. Das führt zu Fehleinschätzungen oder gar Retraumatisierungen.
Deshalb entwickeln wir:
- individualisierte Risikoformulare, angepasst an autistisches Erleben
- Verhaltensanalysen auf Basis von Bedürfnislogik
- digitale Verlaufsdokumentation mit Beteiligung des Kindes/Jugendlichen (z. B. Visualisierung, Feedback-Tools)
4. Maßnahmen zur Prävention & akuten Intervention
a) Prävention
- konstante Bezugspersonen (auch digital)
- geregelte Übergabeprozesse
- regelmäßige Reflexionsrunden im Team (Supervision & Fallbesprechung)
- niedrigschwellige Feedbackkanäle für Kinder & Familien
- Schulung zu Autismus, Trauma & Kommunikation für alle Fachkräfte
b) Intervention bei Verdacht auf Gefährdung
- Fallbesprechung mit interner Fachstelle Kinderschutz
- Klärung: Verhalten als Reaktion oder Gefährdung?
- Rücksprache mit Fachpersonen, ggf. ASD
- Beteiligung des Kindes in geeigneter Form
- keine standardisierten Wege ohne Differenzierung
5. Partizipation & Selbstvertretung
Wir schützen nicht über Kinder hinweg, sondern mit ihnen.
- Kinder und Jugendliche werden altersangemessen beteiligt
- sie dürfen ihre Sicht schildern – auch nonverbal oder digital
- bei Ablehnung von Maßnahmen wird nicht sofort Pathologie vermutet, sondern Selbstbestimmung respektiert
- unsere digitalen Tools ermöglichen Kommunikation auch bei Sprachlosigkeit
6. Dokumentation & Qualitätssicherung
- alle Prozesse werden systematisch und transparent dokumentiert
- Schutzprozesse sind jederzeit prüfbar – aber nicht standardisiert im Sinn starrer Schemata
- Teamfortbildungen zur Sicherstellung traumasensibler und neurodiversitätssensibler Praxis
- jährliche Überprüfung des Schutzkonzepts mit Beteiligung der Zielgruppe
7. Kooperation & Verantwortungsklärung
Wir arbeiten mit Jugendämtern, Schulen, Kliniken, Eltern, Schulbegleitungen und weiteren Helfer:innen zusammen. Dabei ist klar:
- Unsere Rolle ist nicht Kontrolle, sondern Beziehung und Begleitung.
- Verantwortung wird nicht weitergereicht, sondern bewusst übernommen.
- Schnittstellen werden aktiv koordiniert – insbesondere bei drohender Kindeswohlgefährdung.
8. Grenzen achten – Schutz auch für Fachkräfte
Auch Fachkräfte sind Schutzpersonen – aber keine Maschinen. Wir fördern Selbstreflexion, klare Zuständigkeiten und achtsamen Umgang mit Belastung. Denn: Nur wer selbst sicher ist, kann Sicherheit geben.
Fazit
Ein Schutzkonzept für neurodivergente Kinder bedeutet:
- weniger Kontrolle, mehr Beziehung
- weniger Norm, mehr Mensch
- weniger Anpassung, mehr Schutz
- weniger Raster, mehr Individualität
- weniger Druck, mehr Würde