Kinderschutz bei Autismus – Zwischen Systemversagen und Chancen zur Veränderung

Die Realität: Fehlanpassung statt Förderung

Autistische Kinder und Jugendliche sind in besonderem Maß gefährdet, im Hilfesystem übersehen oder fehldiagnostiziert zu werden. Zu oft wird ihre Realität nicht als individuelle neurologische Andersartigkeit, sondern als "abweichendes Verhalten" bewertet. Dies führt dazu, dass die Reaktion des Systems nicht unterstützend, sondern normierend und konfrontativ erfolgt.
Statt Fragen zu stellen wie:
„Was braucht dieses Kind, um sich sicher zu fühlen?“
wird oft gefragt:
„Wie bringen wir das Kind dazu, sich anzupassen?“
Das Ergebnis:

  • chronische Überforderung,
  • Verlust von Vertrauen,
  • zunehmende Eskalationen,
  • Rückzug, psychosomatische Beschwerden oder Schulverweigerung,
  • und in schweren Fällen: Gefährdung des Kindeswohls.


Warum das bisherige System scheitert

Die deutsche Behindertenhilfe ist historisch auf „Versorgung“ ausgelegt – nicht auf neurodiversitätssensible Förderung. Viele Strukturen basieren auf der Idee der Anpassung an bestehende Systeme (Werkstatt, Schule, Tagesstruktur), nicht auf der Individualisierung von Angeboten.
Doch Autismus lässt sich nicht „integrieren“ – es braucht Umgebungen, die kompatibel sind.
Fachkräfte berichten seit Jahren, dass klassische Konzepte in Werkstätten, Förderzentren oder Wohngruppen keine Passung bieten. Dennoch wird das System aufrechterhalten – aus strukturellen, personellen und ideologischen Gründen.

Low Arousal als fachlich fundierte Alternative

Der von Bo Hejlskov Elvén entwickelte Low Arousal Ansatz bietet einen konkreten, wirksamen Gegenentwurf. Er beruht auf der wissenschaftlich bestätigten Annahme, dass scheinbar herausforderndes Verhalten Ausdruck von Stress oder Überforderung ist – und nicht Ausdruck von Willkür oder Störung.
Statt Druck aufzubauen, arbeitet der Low Arousal Ansatz mit:

  • Entlastung durch reizarme, vorhersehbare Umgebung
  • emotionskontrollierter Kommunikation (ruhige Stimme, keine Konfrontation)
  • Verzicht auf autoritäre Machtausübung
  • Beziehungsaufbau durch Sicherheit und Vertrauen

„Man kann niemanden zur Kooperation zwingen – aber man kann Bedingungen schaffen, unter denen Kooperation möglich wird.“
–Zitat:  Bo Hejlskov Elvén


Die ethische Dimension

Gemäß UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK, Art. 24) haben Kinder mit Behinderung ein Recht auf individuelle Förderung, inklusive Bildung und größtmögliche Selbstbestimmung. Dies ist kein Ideal – es ist geltendes Recht.
Der Verbleib in nicht-passenden Strukturen, die Erwartung täglicher „Funktion“ in Werkstatt oder Schule, oder das wiederholte Umplatzieren bei Eskalation widersprechen diesem Anspruch massiv.

Fazit: Systemwandel ist möglich – und notwendig

Was wir brauchen, ist kein weiteres Regelwerk – sondern Mut zur Haltung.
Fachkräfte, Träger und Jugendämter benötigen:

  • Strukturen, die Individualität ermöglichen,
  • Zeit für Beziehung statt Fokus auf Funktion,
  • und systemische Selbstreflexion statt Schuldzuschreibung an das Kind.

Denn:

Nicht das Kind ist das Problem – sondern das Umfeld, das keine andere Reaktion zulässt.

Und:

Nur wer Sicherheit und Verständnis erfährt, kann sich entwickeln.